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Klaus Kuenen

Essay: Innovationen durch Wertewandel – am Fallbeispiel MP3 Teil2

Aktualisiert: 15. Feb. 2022

Im ersten Teil des Fallbeispiels habe ich die Verschiebungen der Entwicklungszyklen von LP, CD und MP3 beschrieben. Die dabei auftretenden Wiederholungen hängen mit Umwertungsprozessen zusammen, die Wertmaßstäbe nicht vollständig verdrängen, sondern Zuweisungen verändern. Um die Implikationen dieser Zuweisungen und die damit verbundenen Verschiebungen –Stichwort: disruptive Innovation- zu verstehen, betrachte ich in diesem Essay die indirekt implementierten, kulturellen Inhalte: die Werte und den Wertewandel.

Die historischen Details finden sich auf der Site: mp3-history.com des Fraunhofer IIS und zusammengefasst hier: MP3 eine disruptive Innovation chronologisch

Die folgenden Anmerkungen zur LP, CD und MP3 sollen exemplarisch darstellen, was mit „Verschiebungen und Wertewandel“ gemeint ist.

Höhepunkt der Langspielplattenära war 1981.

Mit rund 1,2 Mrd. Stück wurden weltweit so viele Tonträger wie nie zuvor und nie mehr danach abgesetzt. Das Hören einer (Vinyl-) LP setzt das Einschalten von Plattenspieler und Verstärker voraus. Die LP muss aus der Hülle genommen und auf den Plattenteller aufgelegt werden. Die Nadel des Plattenspielers wird (z. T. auch automatisch) auf die Platte aufgesetzt. Zum Hören der zweiten Seite der LP muss die Schallplatte umgedreht werden und die Nadel wieder aufgesetzt werden. Jede Seite einer Schallplatte enthält ca. 25 Minuten Musik. Mit jedem Abspielen verschlechtert sich durch die mechanische Abtastung die Klangqualität, im Laufe der Zeit auch hörbar. Hüllen und Innenhüllen sind oft aufwendig gestaltet und gehören zum Gesamterlebnis „Schallplatten Hören“ dazu. Sie sind Trägermedium für Informationen, Mittel zur Identifikation und Medium der Kunst.

Erst die Auseinandersetzung mit dem Medium Schallplatte lässt die Werte verstehen, die sich an das Erlebnis „Schallplatte Hören“ knüpfen. Schallplatten stellen eine Art Glaubensbekenntnis dar. Musik war zur Hochzeit der Schallplatte, neben der Mode, die auffälligste Form sich abzugrenzen. Man hörte eine Gruppe bestimmter Bands und alles andere war „keine Musik“. Die Identifikation mit Bands war sehr hoch. Schallplatten kaufen war ein Ritual. Dazu gab es an jeder Ecke Schallplattenläden, in denen man mit Freunden stundenlang durch die ausgestellten Schallplatten „flippte“.

Eine Schallplatte kostete zu diesem Zeitpunkt ca. 20 DM. Kaufkraftbereinigt wäre das heute etwas die gleiche Summe in Euro. Für die meisten Menschen mit einem begrenzten Budget bedeutete dies, dass ein Kauf wohlüberlegt war. Folgerichtig wurden Hitparaden durch die Anzahl der Verkäufe definiert. Schallplatten wurden nicht verliehen, höchstens an sehr sorfältig ausgewählte Freunde. Man traf sich mit Freunden, um gemeinsam die neuesten Platten anzuhören. Die Werte, die sich aufgrund dieser Ausrichtung, vornehmlich mit dem Medium Schallplatte verbinden sind: Akribie, Befreiung, Bestätigung, einen Unterschied machen, Extravaganz, Hochgefühl, Investierung, Privatsphäre, Revolution, Schönheit, Sorgfalt, Zugehörigkeit, Technologie.

Ein Jahr nachdem die LP ihren Absatzhöhepunkt erreichte, wurde die CD eingeführt (1982). Early Adoptors waren Technik-Nerds, die vom Mehr an Klang angesprochen wurden. Faktisch war das die höhere Dynamik von mind. 90 db. Die Schallplatte erreicht in der Praxis 50 bis 60 db. Des Weiteren sorgte die einfache Handhabung und das Mehr an Inhalt (70 Minuten) schnell für eine Durchdringung der Massenmärkte. In den folgenden Jahren wanderten viele Schallplattensammlungen zuerst für einige Jahre in den Keller, um dann später über den Sperrmüll oder Flohmarkt entsorgt zu werden. Ebenso ging es vielen Abspielgeräten. Nun wurden CD-Sammlungen zum festen Bestandteil der Wohnzimmereinrichtung, in speziell gestalteten „Designer“-CD-Ständern gestapelt.

Eine CD kostete zu dem Zeitpunkt ca. 30 DM, war also teurer als eine Schallplatte. Abspielgeräte waren bereits kurz nach der Einführung deutlich preiswerter als Schallplattenspieler und für ca. 80 DM erhältlich. Dies war möglich durch die einfachere Bauart mit weniger mechanischen Teilen.

Schnell wurden transportable CD-Player entwickelt und CD-Player in das Autoradio integriert. Die dazugehörigen Werte: Viel, Besitzen, Errungenschaft, Mobilität, Mode, Komfort, Einfachheit, Zweckmäßigkeit.

Vier Jahre bevor die CD-Ära ihren Höhepunkt erreicht (mit rund 2,4 Mrd. Stück werden 2000 weltweit so viele Tonträger wie nie zuvor und nie mehr danach abgesetzt), beginnt das Fraunhofer IIS mit dem Vertrieb von MP3-Software über das Internet, nämlich 1996. Kurze Zeit später kauft ein australischer Student die Software mit einer gestohlenen Kreditkartennummer und macht sie öffentlich verfügbar. Schnell verbreitete sie sich weltweit.

Inzwischen lagen auf zahllosen PCs MP3-codierte Musikdaten. Da der Ausgang meist eine Musik-CD war, gab es hier auch nur kaum hörbare Qualitätsverluste. Der gesamte Prozess erforderte aber hohes technisches Know-how und einen für die damalige Zeit Hochleistungs-PC.

MS DOS MP3 codierer


Der MPMan machte diese Musikdaten wie bei dem Vorbild Sony Walkman transportabel und hörbar.

MPMan

MPMan, Sandisk Siemens 1998


Man traf sich nun nicht mehr zum Musikhören bei Freunden, sondern schickte sich die Musikdaten online zu. Dies war bei den damaligen Leistungsdaten der Netze natürlich nur mit entsprechender Komprimierung möglich. Um die eigene Sammlung an Musikdaten zu erhöhen, konnte man sich in Tauschbörsen wie Napster anmelden. 2001 erreichte Napster rund 2 Mrd. Downloads. Andere Tauschbörsen entstehen: Applejuice, Audiogalaxy, Direct Connect, Donkey2000, Soulseek, WinMX, BitTorrent, Freenet, GNUnet, RetroShare, OFFSystem, MUTE, Zultrax, Proxyshare, Nodezilla, Share, Closed Source, Winny.

Nach dem „Peer-to-Peer“-Prinzip stellte man seine eigene Musiksammlung anderen zur Verfügung und erhielt selber Zugang zu vielen privaten Sammlungen.

Alle Versuche der Musikindustrie, dies durch codierte Daten auf der CD zu unterbinden, wurden meist innerhalb kurzer Zeit durchkreuzt (s. Bsp. Digital Rights Management). Damit war die Musikindustrie aus dem Geschäft. Ihr Geschäftsmodell wurde nun disruptiv (von außen) innoviert. Die Werte, die sich mit MP3 in dieser Phase verbinden, schließen mit ein: Viel, Besitz, Expertise, Technik, Anerkennung, Ansehen, Ehrgeiz, Fortschritt, Geben, Großzügigkeit, Herausforderung, Raffinesse, Revolution, Sparsamkeit, Überlegenheit, Unabhängigkeit.

Im Jahr 2003 kaufte Apple SoundJam MP (Software-Verlag Casady & Greene) und bereitete damit den durchschlagenden Erfolg des Cloud-Diensts iTunes vor. Steve Jobs holte damit die Musikindustrie wieder ins Geschäft – allerdings zu seinen Bedingungen und Konditionen. Bis dahin konnten sich die großen Player der Musikindustrie nicht auf Form und Format für eine gemeinsame Vorgehensweise zum Umgang mit den Cloud-Diensten einigen. Alle Businessmodelle befriedigten nicht die Bedürfnisse großer Unternehmen. Tatsächlich wurde die ehemalige Höhe der Umsätze auch nie mehr erreicht. In der Folge etablierten sich weitere Cloud-Dienste: Amazon, Google, Spotify, etc.

Für den Konsumenten wurde die Handhabung immer einfacher. Er zahlt eine Flatrate oder einzelne Musikstücke oder Alben. Damit sind diese für ihn auf jedem Device (MP3-Player, Desktop-PC, Notebook, Smartphone) verfügbar. Musik wird nicht mehr gesammelt, sondern ist jederzeit verfügbar. Werte Kanon: Verfügbarkeit, Aktivität, Effektivität, Freizeit, Einfachheit, Entspannung, Genuss, Reichhaltigkeit, Nützlichkeit, Komfort, Zugänglichkeit, Zuverlässigkeit, Zweckmäßigkeit, Unterhaltung.

Der Wertewandel, der sich zwischen LP, CD, Tauschbörse und Cloud-Diensten vollzieht, ist beeindruckend und eng mit MP3 als En- und Decodierungsformat verbunden. Die disruptive Innovation MP3 steht ein für technische Möglichkeiten und Machbarkeiten. Die Bereitschaft zur Adoption dieser Möglichkeiten allerdings erschließt sich über Anschlussfähigkeiten. Anschlussfähigkeit ist dabei nichts anderes als das Entsprechen von Erwartungshaltungen aufgrund eines vorhandenen Wertekanons.

An dieser Stelle scheren Machbarkeit und Möglichkeit auseinander. Der „Wissenserwerb“ erfordert ein situatives Verständnis, ein detailliertes Erforschen des „Ist-Zustandes“ sowie eine Auseinandersetzung mit den Entwicklungen und Erkenntnissen, die in diesen Zustand geführt haben. Die Angaben zu den Werten jedoch, die sich mit der Bereitschaft zur Adoption verbinden, verweisen auf übergreifende Sinnzusammenhänge, denen sich der Erkenntnisgewinn öffnen muss, will man etwas über Anschlussfähigkeiten des Machbaren und Möglichen erfahren.

Rolling Stones CD


Rolling Stones LP


Rolling Stones MP3 Datei


Alle Essays aus meiner Promotionsschrift: „Disruptive Innovationen aus designwissenschaftlicher Perspektive“. Im Selbstverlag veröffentlicht und bei Amazon als Buch oder Kindle zu bestellen.

© Dr. K.Kuenen, 2018


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