„MP3? Ist das nicht der Musikplayer?“, wird meistens gefragt, wenn die Rede auf MP3 kommt.
Doch kaum jemand weiß, dass MP3 ein Audiostandard ist, der in Erlangen entwickelt wurde. Oder haben eine Vorstellung, wie die Datenkompression funktioniert. Die historischen Details zur Entwicklung finden sich hier. Den Prozess einer disruptiven Innovation skizziere ich gerne am Fallbeispiel MP3. Hier lassen sich die von Clayton M. Christensen formulierten fünf Kriterien einer disruptiven Innovation und die dazu gehörende Veränderung der Werte leicht ablesen.
Ab 1970
Prof. Dieter Seitzer beginnt an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg mit der Forschung zur Übertragung von Sprache in hoher Qualität über analoge Telefonleitungen. Obwohl ein erster Patentantrag abgelehnt wird, beschäftigt er eine Gruppe von Studenten, die sich in Diplomarbeiten und Dissertationen mit der Audiocodierung beschäftigen.
Grundlagenforschungmit dem Ziel: Übertragung von Sprache in hoher Qualität über Telefonleitungen
Ab Mitte 1970
Mit der Einführung von ISDN und Glasfaserkabel in der Telekommunikation rückt die Verbesserung der Sprachcodierung in den Hintergrund. Einer neuen Idee folgend, beginnt Seitzers Team mit der Forschung an der Codierung von Musiksignalen.
Forschung an der Software mit dem Ziel: Audiocodierung, auch von Musik.
1979
Das Team von Prof. Seitzer entwickelt einen ersten digitalen Signalprozessor zur Audiocodierung. In den folgenden Arbeitsschritten beginnt Karlheinz Brandenburg – einer der Studenten im Team – mit der Nutzung von psychoakustischen Prinzipien in Audiocodierverfahren. Die dabei gewonnenen neuen Erkenntnisse und Korrekturen bringt er wiederum ein in die Psychoakustik, der Wissenschaft über die Eigenschaften des menschlichen Gehörs. Unter der Leitung von Prof. Seitzer verbessern Brandenburg und das Team stetig ihre Codierverfahren.
1981
Höhepunkt der LP Ära. Mit rd. 1,2Mrd. Stück werden weltweit so viele Tonträger wie nie zuvor und nie mehr danach abgesetzt.
1982
Markt Einführung der CD
1982
Unterstützung der Forschung durch die Industrie.
Leitung: Hans-Georg Musmann, Karlheinz Brandenburg u.a. am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) in Erlangen sowie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Zusammenarbeit mit AT&T Bell Labs und Thomson.
1985
Mit dem Ensoniq Mirage kommt der erste (Massentaugliche) Sampler auf den Markt. Hier begann die Entwicklung des digitalen Homerecording (House Musik)
1987
Im Rahmen des EU-geförderten Projektes EU147 „EUREKA“ für Digital Audio Broadcasting (DAB) bilden die Universität Erlangen-Nürnberg und das Fraunhofer IIS eine Forschungsallianz. Unter der Leitung von Prof. Heinz Gerhäuser entwickelte das Forscherteam als Grundlage für weitere Arbeiten einen Echtzeitcodec des LC-ATC-Algorithmus (Low Complexity Adaptive Transform Coding). Bis dahin existierte LC-ATC nur als Computersimulation und viele Arbeitsstunden an Hochleistungsrechnern waren nötig, um das Verfahren mit nur wenigen Stücken zu testen. Der Echtzeitcodec erlaubt das Testen von LC-ATC unter realen Bedingungen und führt zu signifikanten Verbesserungen am Algorithmus.
Die Hardware aus DSP-Modulen und einer Reihe von Audio- und Daten-Schnittstellenkarten wird von einem Team um Harald Popp und Ernst Eberlein von Grund auf neu entwickelt.
Fördermittel der EU
Entwicklung des Echtzeitcodecs
Entwicklung der passenden Hardware.
Ziel: Optimierung der entwickelten Technologie hinsichtlich der Geschwindigkeit.
1988
Die Internationale Standardisierungsorganisation ISO gründet die »Moving Picture Experts Group MPEG«. Die Gruppe ist verantwortlich für die Entwicklung von Audio- und Videokompressionsstandards.
Karlheinz Brandenburg schließt seine Doktorarbeit über den OCF-Algorithmus (Optimum Coding in the Frequency Domain) ab. OCF enthält bereits viele charakteristische Eigenschaften des zukünftigen MP3-Codecs, inklusive einer hoch auflösenden Filterbank, ungleichförmiger Quantisierung, Huffmancodierung und der Seiteninformations-struktur. Die OCF-Software für das Echtzeitsystem wird federführend von Bernhard Grill unter der Leitung von Prof. Gerhäuser entwickelt. Durch einige Erweiterungen wird aus dem OCF-Grundgerüst in dieser Phase ein praktisch einsetzbares Verfahren, das auch weltweit zum ersten Mal eine Audiosignalcodierung mit nur 64 kbit/s in guter Qualität ermöglicht.
Damit kann Musik nun über eine Telefonleitung in Echtzeit übertragen werden.
1989
wird OCF für den geplanten MPEG-Audiostandard vorgeschlagen.
Als erster Kunde des Fraunhofer IIS nutzt die »Christian Science Publishing Society CSPS« in Boston OCF zur Übertragung ihres Radioprogramms.
Entwicklung wird innerhalb der ISO/IEC JTC1 SC29 WG11 (MPEG) fortgeführt.
Erster kommerzieller Einsatz des OCF Codec.
1991
Das neue leistungsfähige Audiocodierverfahren ASPEC (Adaptive Spectral Perceptual Entropy Coding) wird der Öffentlichkeit vorgestellt. ASPEC ist das Ergebnis weiterer Verbesserungen an OCF und Beiträgen der Universität Hannover, AT&T und Thomson.
Bei MPEG gehen insgesamt 14 Vorschläge zur Audiocodierung ein, und die Teilnehmer werden ermutigt, ihre Beiträge zu vereinen. Dies führt schließlich zu vier Vorschlägen, darunter ASPEC und MUSICAM als Kandidat von u.a. dem Institut für Rundfunktechnik IRT sowie Philips. Nach ausführlichen Tests der Kandidaten schlägt MPEG vor, aus MUSICAM und ASPEC eine Familie aus drei Codierverfahren abzuleiten: Layer 1 als Variante von MUSICAM mit geringer Komplexität, Layer 2 als optimierter MUSICAM-Coder, und Layer 3 basierend auf ASPEC.
Wegen der geringeren Komplexität wählt DAB den Layer 2 als Codec für digitalen Rundfunk. Der zu der Zeit effizienteste Codec Layer 3 wird dagegen zum Schlüssel für die Übertragung qualitativ hochwertiger Audiodaten über ISDN-Telefonleitungen. Als Beweis für die Realisierbarkeit stellt das Fraunhofer IIS eine Anzahl von ASPEC/Layer 3 19-Zoll Studiogeräten her und verkauft diese an professionelle Nutzer wie z.B. Radiostationen. So wird die zuverlässige Übertragung von Sprache und Musik über ISDN zwischen Rundfunkanstalten die erste echte Anwendung der Fraunhofer IIS Audiocodierverfahren.
Während der Entwicklung des endgültigen Standards MPEG-1 Layer 3 aus dem ASPEC-Codec findet eine technische Annäherung an die anderen beiden geplanten MPEG-1 Audiocodierverfahren statt. Zusätzlich wird der Codec von Jürgen Herre um eine »Joint Stereo«-Funktion erweitert, so dass Stereo-Musik effizient codiert werden kann. Im Dezember ist die technische Entwicklung des MPEG-1-Standards abgeschlossen.
Weiterentwicklung des Codes zu ASPEC
Festlegung der MPEG Foundation auf MUSICAN (Philips) und ASPEC (Fraunhofer Institut und AT&T Bell Labs, später Lucent, später Alcatel) als Layer
Am 6. Dezember 1991 als ISO CD 11172
Keine Diffusion. Anwendung nur in Studios.
1993
MPEG beschließt, den ersten MPEG-Standard bei Video-CDs (CD-I) einzusetzen. Diese wird im August 1993 als ISO/IEC 11172 veröffentlicht. Für Audio spezifiziert MPEG dabei eine Familie von drei Formaten (Layer 1, 2, 3). Layer 3 ist der effizienteste der drei Codecs und findet in Folge schnelle Verbreitung zum Speichern von Musik auf den zu der Zeit relativ kleinen PC-Festplatten und für die Übertragung von Musikdateien über die langsamen PC-Modems mit 28,8 kBit/s.
Bei den olympischen Winterspielen in Albertville übertragen alle deutschen Privatradiosender ihr Programm mit ASPEC in die Heimat.
Bereits 1992, also direkt im Anschluss an die Standardisierung, lizenzierten die ersten Unternehmen MP3.
Entscheidung der MPEG für den CD Standard. August 1993 als ISO/IEC 11172
1994
Micronas stellt die erste Generation von MP3-Decoderchips vor. Kurz darauf entwickelt das Fraunhofer IIS den Prototyp eines MP3-Players. Dieser erste mobile Musikspieler ohne bewegliche Teile speichert rund eine Minute MP3-Musik und beweist die Alltagstauglichkeit von MP3.
Fraunhofer Institut und AT&T Bell Labs (Lucent, später Alcatel)
Vorstellung des mpeg 2 Codes
Erster MP3 Player
Ziel: Musik im Speicher, keine physischer Träger mehr.
1995
Die Fraunhofer-Gesellschaft und Thomson richten ein gemeinsames Lizenzprogramm ein. Nutzer von MPEG Audio Layer 3 erhalten so schnell und unkompliziert Softwareimplementierungen und die Nutzungsrechte für die Patente des Fraunhofer IIS und Thomson.
In einer internen Umfrage sprechen sich die Fraunhofer-Forscher einstimmig für .MP3 als Dateiendung für MPEG Layer 3 aus.
Abb.: Notiz zur Umfrage, Quelle: mp3-history.com
Die Dauer für die Übertragung einer MP3 Datei sinkt selbst bei ISDN auf akzeptierte Länge.
Name MP3 als Format als Abkürzung für ISO MPEG Audio Layer3
Erste Software Player im Umlauf. (WinAmp)
Software Player anschlussfähig durch CD Player Analogie.
Diffusion und Adoption setzen ein.
1996
Das Fraunhofer IIS beginnt mit dem Vertrieb von MP3-Software über das Internet.
Kurze Zeit später kauft ein australischer Student die Software mit einer gestohlenen Kreditkartennummer und macht sie öffentlich verfügbar. Schnell verbreitet sich die gestohlene Software weltweit.
1996 wählt das Satellitenradio Worldspace MP3 als Audioformat.
Abb.: Oberfläche eines MP3 Software Codierers für das Betriebssystem MS-DOS, Quelle: https://blog.oldversion.com/the-history-of-winamp/
Diffusion durch eine illegale Handlung.
1998
MPMan F10 als international erster Player für den Massenmarkt. 32MB Speicher, 500$
Mit Sandisk Siemens ein neuer Hersteller (Flash Speicher) im Markt.
Abb.: Erster MP3 Spieler: MPMan MP F (sandisk-siemens), Quelle: https://www.chip.de/bildergalerie/Die-Geschichte-des-MP3-Players-Galerie_31177501.html
Verhaltensmuster klassisch mit dem Ziel: Weiterführung der gewohnten CD Player
1999
Napster. Peer-to-Peer-Ansatz (P2P) Applejuice, Audiogalaxy, Direct Connect, Donkey2000, Soulseek, WinMX, BitTorrent, Freenet, GNUnet, RetroShare, OFFSystem, MUTE, Zultrax, Proxyshare, Nodezilla, Share, Closed Source, Winny
Online Tauschbörsen Ziel: Industrie (Musikverlage) umgehen, anschlussfähig durch MC Analogie
2000
Höhepunkt der CD Ära. Mit rd. 2,7 Mrd. Stück werden weltweit so viele Tonträger wie nie zuvor und nie mehr danach abgesetzt.
In den folgenden Jahren sinkt der Absatz bis auf aktuell (2015) rd. 1 Mrd. Stück
2002
Jon Rubinstein (SVP Hardware Engineering Apple) entwickelte die Technologie zum ipod auf Basis der 1,8 Zoll Festplatte, die er zufällig bei Toshiba (einer der Lieferanten von Apple) sieht. Toshibas Ingenieure sind sich nicht sicher, ob die Festplatte eine Marktrelevanz hat. Das innovative Design der Funktion (Jog Dial) wird zunächst auf dem Markt nicht angenommen. Wirtschaftlich ist der ipod nur mäßig erfolgreich.
1,8 Zoll Festplatte 23. Oktober 2001 iPod mit 5-GB-Festplatte.
Abb.: ipod1, Quelle: httpss://bytemyvdu.wordpress.com/tag/1st-gen/
Ziel: Marktteilnahme.
2003
Apple kauft Sound Jam MP, (Software-Verlag Casady & Greene) und baut die Software zum iTunes Musikstore aus.
Ziel: Monetisierung mit der Industrie (den Content Besitzern)
Analog zu kostenfreien Tauschbörsen.
Quellen: mp3-history.com, Fraunhofer IIS
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