Der Zusammenhang zwischen Bedeutungswandel, Werten und der Bereitschaft zur Adoption neuer Inventionen wird besonders deutlich, wenn die Absatzentwicklungen von Tonträgern in der Musikindustrie in Relation zur disruptiven Innovation MP3 betrachtet werden. Die historischen Details finden sich auf der Site: mp3-history.com des Fraunhofer IIS oder zusammgefasst hier: MP3 eine disruptive Innovation chronologisch Den Prozess einer disruptiven Innovation skizziere ich gerne am Fallbeispiel MP3. Hier lassen sich die von Clayton M. Christensen formulierten fünf Kriterien einer disruptiven Innovation und die Veränderung der Werte leicht ablesen.
Diese fünf Kriterien sind:
Das neue Produkt entspricht scheinbar nicht den Leistungsanforderungen eines Massenmarktes.
Die neuen Produktmerkmale zeichnen sich zunächst als wenig attraktiv im Vergleich zu bestehenden Leistungskriterien aus.
Das neue Produkt ist oftmals einfacher, billiger und wird zu einem günstigeren Preis als bestehende Produkte angeboten.
Disruptive Innovationen treten häufiger im unteren Segment in den Markt ein, wo mit weniger Gewinnspanne zu rechnen ist.
Produktentwicklung und Leistungsverbesserung ermöglichen es, das neue Produkt an die Leistungserwartung etablierter Märkte anzupassen, was das neue Produkt und seine Attribute zunehmend zu einer Gefahr für die Absatzmöglichkeiten marktführender Unternehmen werden lässt.
MP3 hat sich mittlerweile als weltweiter Praxisstandard mit revolutionärer Wirkung durchgesetzt. Im Vergleich zur Compact Disc (CD) verfügt MP3 den technischen Daten nach über schlechtere Klangqualitäten, aber das komprimierte digitale Format erlaubt, Daten flexibler zu bewegen und zu speichern.
Die auf der CD gespeicherten Daten liegen ebenfalls bereits im digitalen Format .wav vor, sind aber nicht komprimiert, sondern lediglich im Frequenzbereich zwischen 20 und 20 Tsd. Hertz beschnitten. Erst die Komprimierung erlaubt das flexible Bewegen und massenhafte Speichern. Diese Asymmetrie zwischen Leistungsanforderung und Leistungsdimension ebnete den Weg zur disruptiven Innovation.
Tonqualität spielte in der Entwicklung eine entscheidende Rolle und mit der CD war ein Standard erreicht, der über die allgemeine Leistungsanforderung hinausging (Overengeering). Die Musikindustrie verkannte den Nutzen, den MP3 als Speicherformat bot (Flexibilität, Mobilität, leichte Handhabung), weil der Komprimierungsstandard das entscheidende Leistungskriterium – High-end-Tonqualität – in ihren Augen nicht zu Genüge erfüllte. Die Möglichkeit, dass die Kundenanforderung an dieses Kriterium bereits erfüllt war, wurde nicht in Betracht gezogen. Außerdem wurde die Größe der im Transfer zu handhabbaren Dateien nachteilig empfunden. Diese Diskrepanz ließ sich nutzen.
Die Produkteigenschaften von MP3 waren vergleichbaren Technologien in bestimmten Aspekten unterlegen, was das Format zunächst nur im unteren, kleineren Marktsegment attraktiv machte, aber MP3 bot Attribute, die neue Wege aufwiesen. Zunächst wurden vor allem Jugendliche mit entsprechender IT-Ausstattung und Know-how von den Merkmalen des MP3-Standards angesprochen. Vereinfachte Kopier- und Verbreitungsmöglichkeiten erlaubten jedoch bald eine einfachere Handhabung auch großer Datenmengen. MP3 avancierte zum Standardformat für Komprimierung und IT-Firmen wie Apple stiegen in die Musikbranche ein. Es entstanden völlig neue Märkte, wie zum Beispiel Cloud-Dienste.
Gängige Leistungskriterien sahen sich nicht nur „überholt“, es etablierten sich neue Nutzungsmöglichkeiten, ein neuer Umgang mit Musik. Eine neue Bedeutung wurde möglich. Wie es häufig der Fall mit disruptiven Innovationen ist, wurde MP3 zuerst als „außer Konkurrenz“ von den Marktführern wahrgenommen und ignoriert. Mit dem technischen Fortschritt entfaltete das Format jedoch sein Potenzial und entwickelte sich so zu einer echten Bedrohung: das Innovator’s Dilemma, nach Christensen. Mit MP3 entstanden neue Leistungsdimensionen, neue Werte, die den Markt revolutionierten und gängige Kriterien verdrängten.
Die Adoption und Diffusion MP3-bezogener Inventionen setzte Mitte der 1990er-Jahre ein. Die ersten Player drängten auf den Markt, Tauschbörsen etablierten sich und neue Vertriebs- und Konsumkanäle in Form von Cloud-Diensten entstanden. Der maßgebliche Entwickler des Verfahrens ist der deutsche Elektrotechnikingenieur und Mathematiker Karlheinz Brandenburg, zusammen mit seinem Team am Fraunhofer Institut IIS. Das Team stützte sich auf Grundlagenforschung, die Dieter Seitzer zur Übertragung von Sprache über analoge Telefonleitungen und Audiocodierung in den 1970er-Jahren vorlegte.
Die historischen Zusammenhänge sind im Artikel „MP3 eine disruptive Innovation chronologisch“ detailliert ausgeführt.
Interessant ist an dieser Stelle, wie Umwertungsprozesse von Bedeutungsinhalten, die sich eng an Medien und Bedürfnisse binden, die Erfolgsgeschichte des MP3-Formats begleiten. Abb. 1 und 2 zeigen, wie sich die Absatzkurven unterschiedlicher Tonträger zueinander verhalten.
Abb. 1: Absatz Tonträger Weltweit in Mio.
Abb. 2: Absatzentwicklung der deutschen Musikindustrie 1970-2014
Im Folgenden sollen einige vergleichende Beobachtungen dazu angestellt werden. Die medienarchäologische Perspektive ist hier von besonderer Relevanz. So findet sich im Metzler Lexikon Ästhetik unter dem Begriff der Medienarchäologie folgende Aussage: „Lange Zeit kam das, was in Kulturen als das bloß Vermittelnde (´Medium´, ´Medien´) galt, nur am Rande zur Sprache. Medienarchäologie meint demgegenüber das Aufspüren von Prozessen, die sich via Übertragungskanäle in Form von apparativer En- und Dekodierung operativ ereignen.“[2]
Diese Prozesse, die hier mit Designprozessen gleichgesetzt sind, generieren Wissen – Wissensstände, mit denen umzugehen ist. Dieses „Wissen“ orientiert sich nicht alleine an der Wahrnehmung technischer Modalitäten, sondern verlängert und überkreuzt sich mit kulturellen Inhalten und Identitäten – mit Werten. Medienarchäologische Betrachtungen widmen sich weniger den direkt medial transportierten Inhalten, als den indirekt implementierten Bedeutungsschichtungen, die kulturelle Verflechtungen nachzeichnen. Laut Friedrich Kittler zählen Inhalte für die Erforschung von Medien nur nachrangig.[3]
Kittlers Position ist aus einem weiteren Grund nennenswert. Wie das hier vorgestellte Designverständnis von kontinuierlichen Umwertungsprozessen ausgeht, die das „Neue“ als aus Bestehendem hervorgehend verstehen, setzt auch die medienarchäologische Perspektive auf ein Model der Umschichtung: „Neue Medien machen nicht alte obsolet, sondern weisen ihnen andere Systemplätze zu (Friedrich Kittler).“[4] Abb. 1 und 2 unterstützen diese These und widersprechen darin dem Model Christensens bzw. seinem ausschnitthaften Charakter. Die disruptive Innovation MP3 verschiebt die Wahrnehmung – und damit die Adoption – operativer Übertragungskanäle. Diese Prozesse beziehen sich auf technische Details (spezifisch-materielle Ebene), aber auch auf übergreifende Wahrnehmungsprozesse, die bedeutungsstiftend fungieren: kulturelle Zusammenhänge.
Interessant ist in dieser Hinsicht, etwa die Rolle der Musikkassette (vgl. die mittlere Absatzkurve in Abb. 1, hier abgekürzt als MC). Wird über die Musikkassette medienarchäologisch nachgedacht, kommt ihr tatsächlich ein Übergangscharakter zu, der sie von vergleichbaren Medien wie der Schallplatte (LP) und der Compact Disk (CD) abhebt. Diesen Status verdankt die Musikkassette vor allem ihrer relativen Robustheit, aber auch der leichten Handhabung und Unabhängigkeit in der Nutzung von digitalen Abspielmöglichkeiten. Entsprechend erlebte sie einen unerwarteten Boom von ca. 1,5 Mrd. Stück Absatz pro Jahr zwischen 1988 und 1992. Durch die einfache Handhabung und die deutlich höhere Nutzungsdynamik (im Vergleich zur Schallplatte) ist selbst die Kopie digitaler Inhalte auf einer Kassette klanglich in etwa auf dem Niveau einer Schallplatte. Die Kassette kommt dort zum Einsatz, wo digitale Standards nicht in der gleichen Unabhängigkeit nutzbar sind, wie analoge Techniken und ihre qualitativ hochwertigen Speicherkapazitäten dennoch von Vorteil sind.
Der überlappende Charakter der Kurven stellt dar, dass sich Zyklen eher verschieben und wiederholen, als gegenseitig ablösen. Diese Verschiebungen und Wiederholungen hängen mit Umwertungsprozessen zusammen, die Wertmaßstäbe („Wissensstände“) nicht vollständig verdrängen, sondern Zuweisungen verändern. Um die Implikationen dieser Zuweisungen zu verstehen (und die damit verbundenen Verschiebungen – Stichwort disruptive Innovation), bedarf es eines genauen Betrachtens der indirekt implementierten, kulturellen Inhalte (Werte).
Im folgenden zweiten Teil des Essays werde ich anhand eines Vergleichs von LP, CD und MP3 exemplarisch darstellen, was hiermit gemeint ist.
Alle Essays aus meiner Promotionsschrift: „Disruptive Innovationen aus designwissenschaftlicher Perspektive“. Im Selbstverlag veröffentlicht und bei Amazon als Buch oder Kindle zu bestellen.
Endnoten
[2] Ernst, Wolfgang: Medienarchäologie, in: Trebeß, Achim (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag: Stuttgart, J. B. Metzler, 2006, S. 254-255, S. 254.
[3] Vgl. Kittler, Friedrich: Kommunikationsmedien, in: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Basel, Beltz 1997, S. 649-660.
[4] Ernst, Wolfgang: Medienarchäologie, in: Trebeß, Achim (Hrsg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag: Stuttgart, J. B. Metzler, 2006, S. 254-255, S. 254.
© Dr. K.Kuenen, 2018
Comentarios