Ein weiterer Artikel zum Einsatz agiler Methoden in Unternehmen. Hier ein Bericht aus den Entwicklungabteilungen von Immobilienscout24 und gutefrage.de.
Sehr spannend zu lesen, wie agile Methoden in Kombination mit klassischen Methoden für mehr Geschwindigkeit und Motivation im Team sorgen.
der Artikel erschien im Linux Magazin, 12.2013
Frischer Wind Das Foyer von Immobilienscout24, nach eigener Aussage Betreiberin von Deutschlands größter Immobilienwebseite zeigt sich beim Betreten hell und freundlich. Das moderne Gebäude steht im hippen Berliner Stadtteil Friedrichshain, das für seine Startup-Dichte bekannt ist. Die Firma mit ihren 600 Mitarbeitern als Startup zu bezeichnen, wäre allerdings verfehlt: Die Muttergesellschaft, die Scout-24-Holding, sitzt in München und ist seit 2006 Tochter der Deutschen Telekom. Richtig ist jedoch, dass Immobilienscout24 im selben Teich nach Mitarbeitern angelt wie die Berliner Startup-Szene – was die hier herrschende Firmenkultur zum Teil erklärt.
IT Welten Mit dem Fahrstuhl geht es in den vierten Stock, der Teile des IT-Bereiches der Firma beherbergt, durch die Schlomo Schapiro einen Rundgang führt. Er ist Open-Source-Evangelist, Systemarchitekt bei Immobilienscout24 und oft als Sprecher auf Konferenzen aktiv. Die Firmen-IT besteht grob aus zwei Bereichen, der IT und der Corporate IT. Während sich in letzterer etwa 20 Mitarbeiter um die interne Rechnerstruktur der Firma kümmern und etwa 1 200 Geräte verwalten, befasst sich die IT, die aus sechs Abteilungen mit 170 Mitarbeitern besteht, ausschließlich mit der Internetplattform. Eine Abteilung heißt IT-Production, in ihr kümmern sich 30 Fachkräfte ausschließlich um den Betrieb der Plattform, welche die Firma täglich mehrmals aktualisiert. Lange Flure, keine Trennwände, offene Räume, die Arbeitsplätze sind in kleinen Clustern gruppiert. Zum Gang hin zeigen mit Zetteln beklebte Tafeln, man sieht Diagramme, bekritzelte, farbige Post-its, Grafiken, Pfeile. Schapiro weist auf eine Besonderheit hin: Betriebler sitzen zusammen mit Entwicklern vor Monitoren und arbeiten in Teams an Projekten.
Devops Das ist nicht immer so gewesen, erklärt er. Beide Welten haben früher eher getrennt voneinander operiert. In der klassischen IT programmieren und testen Entwickler ein Produkt und werfen es dann den Admins „über den Zaun“. Dann heißt es zum Beispiel, diese Software braucht „einen Tomcat Version 5 auf einem RHEL, Version alt – viel Spaß damit!“ Geben aber Dutzende von Entwicklerteams ihre Vorstellungen an die Betriebler weiter, erhöht das die Komplexität der Plattform und verlangsamt die Arbeit. Die Lösung, da ist Schapiro sicher, heißt Devops. Das Kunstwort verbindet Developer und Operations und ist keine Stellenbeschreibung, sondern ein Konzept. Die Teams sollen selbst mehr Verantwortung übernehmen und die Dinge unabhängig von anderen Teams lösen. Zugleich erhalten sie mehr Freiheit: Es gibt Rootzugriffe auf die Systeme. Die Teams installieren Dienste, die sie brauchen, müssen dann aber auch Support dafür leisten. Schon deshalb sprechen sich die Mitarbeiter untereinander mehr ab. Generell versucht Immobilienscout24, die Entwicklungsteams stärker voneinander zu entkoppeln, damit diese in ihrer eigenen Geschwindigkeit arbeiten können. Es gibt zum Beispiel die „Serviceline Suche“, die sich um die Suchfunktion der Plattform kümmert und die „Serviceline Anbieten“, die alle Aufgaben betreut, die mit dem Veröffentlichen eines Immobilienobjekts zusammenhängen. Möchte die Suchabteilung früher eine neue Tomcat-Version verwenden als die Anbieten-Abteilung, ist das laut Schapiro kein Problem mehr, alle Beteiligten achten auf Abwärtskompatibilität. Es geht weiter im Programm. Im Gang, zwischen zwei Feuertüren, hängt ein größeres Poster an der Wand, ein Kanban- Board. Das ist das Planungsinstrument der Service Lines, erklärt der Systemarchitekt. Alle haben auf diese Weise Einblick in die geleistete Arbeit sowie die anstehenden und erledigten Aufgaben. Wirtschaften die Teams, wenn sie trotz gleicher Ziele so unabhängig voneinander arbeiten, nicht aneinander vorbei? Diese Frage reicht Schapiro direkt an Sebastian Kirsch weiter, der gerade aus dem Treppenhaus kommt und Softwarearchitekt ist.
Scrum und Kanban „Rein organisatorisch versuchen wir, dass diese Abhängigkeit überhaupt gar nicht existiert“, gibt Kirsch zu Protokoll. Müssen zwei Teams zusammenarbeiten, gibt es unterschiedliche Strategien, die sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Ein Weg besteht darin, sich im Team einen Anführer zu suchen und den Ablauf zusammen mit einem Scrum-Master zu organisieren. Immobilienscout beschäftigt für solche Aufgaben 15 Scrum- Master – Organisationsprofis.
Devops macht Tempo Doch warum eine klassische und bewährte IT-Struktur umkrempeln? „Mein Eindruck ist, dass man als Firma mit den alten Arbeitsmodellen nicht mehr wirtschaftlich bestehen kann.“ erklärt Schapiro. Um an der Spitze zu bleiben, muss jedes Unternehmen steigende Anforderungen bei gleichbleibender Mitarbeiterzahl kompensieren, was nur über Automatisierungen klappe, die zum Konzept von Devops gehören. Nur so sei es zum Beispiel möglich, doppelt so viele Server bei gleichen Kosten zu betreiben. In der Planungsphase gibt es meist zwei Estimation-Meetings. Im ersten werden die Aufgaben grob geplant, wobei es wichtig ist, über die Ziele (Stories) zu reden und weniger über die technische Umsetzung. Zudem entsteht ein grober Zeitplan. Im zweiten Estimation-Meeting brechen die Beteiligten die Aufgaben dann auf kleine Tasks herunter, die sie auf Zettel schreiben und abarbeiten. Scrum hat eine Entwicklung angestoßen, erklärt Schapiro, seither drehe sich in der Firmen-IT das ganze Rad der Welt ein Stück schneller. Die Organisation musste sich anpassen, um am Ruder zu bleiben. Also entschied man sich, Kanban für den Betrieb einzusetzen und in Devops-Manier gemeinsam mit den Entwicklern an den Zielen zu arbeiten. Zu den neuen Methoden gehört es auch, offener zu arbeiten, Verantwortung und Rechte abzugeben, gleichberechtigt miteinander umzugehen und die Probleme des Gegenübers stärker in die Planung zu integrieren. Auch das Management muss sich an dem Prozess beteiligen.
Agil in München Die Einführung von Scrum hat auch beim Internetunternehmen Gutefrage.net in München die Arbeitsweisen verändert. Das zur Holtzbrink-Gruppe gehörende Unternehmen betreibt dort mit insgesamt 100 Mitarbeitern sieben verschiedene Themenportale und vier Ratgeberportale mit über zwei Millionen Mitgliedern. 35 Entwickler arbeiten ständig an den Webseiten und sorgen kontinuierlich für Verbesserungen und Neuerungen. Vor drei Jahren stiegen sie vom klassischen Wasserfall-Modell auf Scrum um. „Damit konnten sie schneller und marktgerechter arbeiten und häufiger Releases machen“, erklärt Robert Misch, der bei Gutefrage. net den Titel Agile Coach trägt. Der studierte Betriebswirt betreut nicht nur die Programmierer in Sachen Organisationsmethoden, sondern auch die Systemadministratoren der Operations genannten Abteilung Seit der Einführung von agilen Methoden müssen die Admins rascher auf die Anforderungen der Entwickler reagieren. „Es gibt keine Sechs-Wochen-Projekte mehr. Wir machen praktisch täglich eine Release“, erzählt Florian Pfeiffer nicht ohne Stolz. Er ist Fachinformatiker und leitet das Operations-Team, das über 4,5 Planstellen verfügt. Seine Mannschaft entsendet täglich um 11 Uhr einen Vertreter in den Scrum of Scrums (SoS), bei dem die Entwicklerteams mit ihnen die nächsten Aufgaben besprechen.
Kanban Dabei praktiziert das Unternehmen gar kein Scrum im eigentlichen Sinn mehr. Seit Februar 2013 heißt die Devise Kanban Scrums feste Sprint-Zyklen haben sich für die Entwickler von Gutefrage.net als zu starr erwiesen. Auf die Arbeit der Administratoren passten sie nie, denn sie haben neben Releases stets eine Menge Wartungsarbeit (Maintenance) zu erledigen. Und so finden sich im Operations-Büro neben Monitoren, auf denen die Software Open TSDB die Auslastung der Server visualisiert, zwei Whiteboards, auf denen das Team Kanban praktiziert – mit Filzstift, Magneten und Zetteln. Eines gilt der Maintenance und bildet daher auch Prioritäten ab, denn schließlich ist eine Downtime der Webanwendung dringender als ein Routine-Update einer Komponente. Wer von den Admins Zeit hat, übernimmt den nächsten anstehenden Job. Der Zettel dazu kommt praktischerweise aus einem kleinen Thermodrucker, den die Mitarbeiter an den Issue Tracker Jira angebunden haben. „Man kann sich als Einzelner nicht mehr die Rosinen herauspicken“, beschreibt Pfeiffer den neuen Alltag. „Für das Team als Ganzes ist das aber gut. Zudem verteilen wir das Wissen auf alle, indem wir immer paarweise an Aufgaben arbeiten.“ Das zweite Board nimmt längerfristige Projekte auf. Kommt ein Entwickler zu Besuch ins Operations-Büro, kann Pfeiffer ihm auf der Tafel zeigen, warum sein Wunsch möglicherweise noch nicht erfüllt ist. Dabei brauchen die Admins dank Chef, einer Open-Source-Lösung für das Konfigurationsmanagement, nur mehr fünf Minuten, um einen neuen Server aufzusetzen. „Eine Segnung der modernen Zeit“, nennt es Pfeiffer.
Keine Angst vor Bewegung In Berlin endet der Rundgang bei Immobilienscout 24 beim Management. Ingmar Krusch hat ein eigenes Büro mit freiem Blick auf Baumgipfel und Hochhäuser, dessen Wände ebenfalls mit Zetteln übersät sind. Früher war er Entwickler, jetzt ist er Abteilungsleiter der IT-Production. Er glaubt: Wenn sich Menschen für ihren Job begeistern, fangen sie ganz von selbst an, Dinge zu verändern, die sie stören. Die Scrum-Einführung ist für ihn ein Paradebeispiel dafür. Mitarbeiter hatten die neuen Methoden diskutiert, die Idee wieder beiseite gelegt und später genügend Enthusiasmus für eine Schulung aufgebracht. Dann hat die Firma überlegt, wie sie das Ganze umsetzen kann und mit einem Softwarearchitektur- Projekt begonnen. Von den Erkenntnissen profitiert inzwischen die ganze Firma. Sie kann Produkte schneller veröffentlichen, ist effizienter beim Umsetzen und erreicht aufgrund der Automatisierung eine höhere Qualität. „,Never change a running system‘ ist das Schlimmste was es gibt.“ erklärt Krusch. Die Konfiguration eines Squid-Proxys sei ein schönes Beispiel, ergänzt Schapiro. Weil hier einiges schief gehen kann, hat die Firma ein Testtool entwickelt, das Konfigurationen vor dem Einsatz testet. Bei den Angestellten kommt das positiv an. Haben Mitarbeiter Angst, Komponenten anzufassen, weil etwas kaputtgehen kann, wird die IT zu unflexibel, um auf Veränderungen zu reagieren. Aber Serum und Kanaan leisten nicht nur das. Durch die schnelleren Produktionsentwicklungszyklen und die veränderte Unternehmenskultur kann das Unternehmen Talente halten und neue Mitarbeiter gewinnen. Berlin sei im IT-Bereich sehr arbeitnehmerfreundlich, daher müssen sich Unternehmen etwas einfallen lassen, um mit den Startups zu konkurrieren.
Mindset „Mindset ist wichtiger als Skillset“, erklärt Krusch. Praktische Fähigkeiten kann man ausbilden, aber Offenheit lässt sich nicht erlernen. Wohl auch deshalb sieht man die Mitarbeiter von Immobilienscout häufig auf IT-Veranstaltungen: egal ob Monitorama, Devops Days oder Linuxtag. Dort sollen sie sich mit anderen austauschen, neue Ideen sammeln aber auch selbst aktiv werden, um Neues zu lernen. Er empfiehlt zudem die Mitarbeit in Open-Source-Projekten und das Halten von Vorträgen. Die Firma selbst veranstaltet intern Admin-Dojos, die sich an Coding-Dojos orientieren und zur gegenseitigen Weiterbildung von Admins beitragen. Daneben gibt es klassische LPICPrüfungen oder Admin-Schulungen.
Von Erfolg gekrönt Auch bei Gutefrage.net habe Kanban zu mehr Transparenz geführt, resümiert der Coach Robert Misch: „Es entsteht ein Überblick über alle Plattformen, die wir betreiben. Dabei sind die Teams stärker gefordert und übernehmen mehr Verantwortung.“ An Patentrezepte und Lösungen von der Stange glaubt er nicht: „Aus dem agilen Werkzeugkasten muss jeder das Passende auswählen und eine Lösung maßschneidern. Das Maintenance- Board beispielsweise haben wir schon vier Mal überarbeitet.“ Offenbar hat er mit seiner Vorgehensweise Erfolg: Gute Frage hat beschlossen, eine zweite Stelle für einen Agile Coach zu schaffen.
Konstantin Kißling, Mathias Huber, Linux Magazin 12-2013
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